Zu Gast im Studio von Zeitzeugen TV war am 14. Januar 2025 die Historikerin Katja Hoyer. Wir
haben mit ihr ein längeres Gespräch über ihre Biografie, ihre Arbeit als Historikern und natürlich
über ihr Erfolgsbuch „Diesseits der Mauer – Eine neue Geschichte der DDR“. Katja Hoyer war
vor unserem Studiotermin Angela Merkel bei einer Lesung ihrer Autobiografie „Freiheit“ in
London begegnet. Deshalb hat sie gleich zu Beginn des Gespräches Thomas Grimm zu ihren
Eindrücken befragt.

ZZTV/Grimm: Sie haben im Vorwort ihres Buches „Diesseits der Mauer“ sinngemäß
geschrieben, Angela Merkel hätte eine Chance für das deutsch-deutsche Verständnis vertan,
weil sie sich nicht auch als Kanzlerin des Ostens mit einer DDR-Biografie geoutet hat.
Katja Hoyer: Ich glaube schon, ohne ihr dabei einen Vorwurf zu machen, weil ich die Gründe
nachvollziehen kann, warum sie das gemacht hat. Es war für sie politisch stets ein Nachteil
gewesen, ostdeutsch zu sein. Sie hat das oftmals selbst festgestellt, wenn sie in der
Öffentlichkeit über die DDR erzählte. Das wurde entweder missverstanden oder zum Teil wohl
bewusst uminterpretiert von dem was sie faktisch aussagen wollte.
Ein für sie wahrscheinlich prägendes Beispiel war ihre öffentliche Aussage, dass sie für ihre
wissenschaftliche Arbeit an der Universität in Leipzig auch einen politischen Essay schreiben
musste. Das war in der DDR so üblich, dass man in der Vorbemerkung zu seiner eigentlichen
wissenschaftlichen Arbeit die politischen Rahmenbedingungen der DDR bestätigte. Als sie das
mal erwähnte in den 90er Jahren sind die Journalisten sofort losgezogen und haben versucht,
diese marxistisch-leninistischen Zeilen zu finden. Aus dieser Situation hat sie gelernt, dass das
schwierig, ja gefährlich ist, über seine Osterfahrungen zu sprechen. Ich habe das deshalb in meiner Einleitung aufgegriffen, weil es für mich interessant war, dass selbst Angela Merkel als die Erfolgsgeschichte einer ostdeutschen Frau, die es an die Spitze der bundesdeutschen Politik geschafft hatte, sich trotzdem nicht traute diesen Teil ihrer Identität öffentlich mit einzubeziehen. In ihrer letzten großen Rede im Amt platzt das dann aus ihr heraus, dass sie immer eine Schere im Kopf gehabt habe. Also immer überlegen musste, was sagt man jetzt, was lässt man lieber weg. Sie betrieb eine Art Selbstzensierung was den ostdeutschen Teil ihrer Biografie angeht. Und für mich als Historikerin hat sich dann natürlich die Frage eröffnet, was machen dann die anderen 16 Millionen Ostdeutschen mit ihren Lebensgeschichten? Wo beißen sie sich auf die Zunge und wo reden sie freiheraus? Wenn man vorankommen will im Leben kann einem die ostdeutsche Identität ausbremsen, sie liegt wie eine Art Schatten auf dem eigenen Leben.
ZZTV/Grimm: Hat Angela Merkel in London englisch gesprochen? Gab es Missverständnisse beim englischen Publikum?
Katja Hoyer: Angela Merkel spricht wohl ganz gut Englisch. Als Physikerin ist sie sehr exakt und genau, deshalb spricht sie ungern in der Öffentlichkeit Englisch. Damit geht sie Missverständnissen aus dem Weg. So war das auch in London. Sie sprach Deutsch und wurde simultan übersetzt. Aber die Fragen wurden auf Englisch gestellt und sie hat dann auf Deutsch geantwortet. Ihren Auftritt fand ich etwas enttäuschend. Es kam nichts Neues zu ihrem Buch hinzu. Ich hatte so das Gefühl, sie wollte nochmal ihre ganze politische Geschichte zu Protokoll geben. Aber es ist nichts in ihrem Buch, was überraschen würde oder spektakulär neu wäre.

ZZTV/Grimm: Hat sie am Ende ihrer Laufbahn nicht doch einmal die Schere im Kopf
vergessen? Beim Großen Zapfenstreich, dem militärischen Abschied spielte die Kapelle den
Song von Nina Hagen „Du hast den Farbfilm vergessen“ und man sieht auf den TV Bildern,
dass ihr die Tränen kommen.
Katja Hoyer: In Großbritannien ist das zum Beispiel völlig anders angekommen, da kennt man ja
das Lied „Du hast den Farbfilm vergessen“ an sich nicht. Man kennt natürlich Nina Hagen als
Punk-Ikone. Da war die Aufregung groß, oh mein Gott, Angela Merkel hat sich ein Punk-Lied
ausgesucht! Weil ich in England viel über Deutschland schreibe und kommentiere, fragte mit die
BBC, ob ich das mal erklären könne, warum Angela Merkel sich ein Punk-Lied als ihr
Abschiedslied ausgesucht hat. Dann habe ich versucht zu erklären, dass Nina Hagen damals
1974 noch keine Punk-Ikone war, sondern eine staatlich ausgebildete Opernsängerin der DDR,
die ihre ersten Schritt in die Popwelt unternahm. Das Lied kennt natürlich jeder Ostdeutsche.
Sie hat das Lied wohl ausgewählt, weil sie ihr Leben Revue passieren lassen wollte. Als der
„Farbfilm“ ins Radio kam war Angela Merkel im gleichen Alter wie die Sängerin. Junge
Menschen, die von einer schönen Zukunft träumen. Die Bundeswehr wusste ja anfangs nicht so
richtig, was sie mit dem Lied anfangen soll. Die Militärkapelle hatten den Song ja vorher nie
gespielt und mussten das erst mal üben. Dieses Lied mit Nina Hagen, denke ich, war ein sehr
persönliche, emotionale Entscheidung der abdankenden Kanzlerin gewesen.