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Auf der Suche nach einem Filmtitel

50 Jahre Putsch in Chile

Im Jahr 2023 jährt sich der blutige Militärputsch von Armeegeneral Augusto Pinochet gegen den
demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende und seine Links-Mitte-Regierung in Chile
zum 50. Male. Nach einem halben Jahrhundert soll unser Projekt an das Ereignis und seine Folgen erinnern. Filme über den Putsch, in denen die überlebenden Akteure vor allem im Umfeld des Präsidenten zu Wort kommen oder die Täter entlarvt werden, gibt es bereits mehrere. Noch in Erinnerung sind die Dokumentationen von Heynowski & Scheumann, unter anderem ICH WAR, ICH BIN, ICH WERDE SEIN aus dem Jahre 1974, oder Patricio Guzmáns dreiteilige SCHLACHT UM CHILE (1972–1978) bis hin zum Spielfilm MISSING von Costa-Gavras mit Jack Lemmon von 1982.
Letzteren haben viele Exilchilenen uns gegenüber als besten Film zum Thema der »Verschwundenen« goutiert.

Welche Geschichte wollen wir erzählen? Welchen Themen und Spuren werden wir in unserem Film folgen? Wie kann man das historische Ereignis von 1973 mit dem Heute verbinden? Manchmal muss einem dabei der Zufall helfen. So stoßen wir bei Recherchen auf Fotos mit einem sich wiederholenden Motiv: Frauen mit Kindern an der Hand auf dem Rollfeld des »Aeropuerto de Pudahuel«, wie der Flughafen in Santiago genannt wird. Bewacht von schwerbewaffneten Soldaten besteigen sie eine Maschine, die sie weit weg von ihrer Heimat bringen wird, was Rettung vor Folter und Tod bedeutet. Zurück bleiben Familienmitglieder und diejenigen, die sich im Untergrund befinden oder die, die spurlos verschwunden sind. Während die Kinder staunend erstmals aus einem Flugzeug die Anden erblicken, nehmen sie die Ungewissheit über das Schicksal ihrer Väter, Großeltern, Tanten und Onkel mit ins Exil.

Die Interpretation dieser Fotos baut uns eine Brücke zum Thema des Films. Was ist aus diesen
Kindern geworden, die damals mit ins Exil gehen mussten? Auf den alten Fotografien sind die
meisten von ihnen zwischen drei und sieben Jahre alt. Was ist aus ihnen geworden, und welche
Rolle spielt das Putscherlebnis noch heute in ihrem Leben? Wir stellen unser Projekt unter das
Motto »50 Jahre Putsch in Chile – Die zweite Generation des Exils in Deutschland«. Für einen
Filmtitel ist das natürlich zu sperrig, aber für die Abgrenzung des Recherchegebietes ist dieser

Leitsatz erst einmal passend. Wenn wir heute fünf Jahrzehnte zurückblättern, finden wir uns in
einem geteilten Deutschland wieder. Es gibt ein Exil in der Bundesrepublik, das in Westberlin und
eines in der DDR. Drei deutsche Exilorte, die sich voneinander sowohl ökonomisch, politisch als
auch sozial unterscheiden. Dementsprechend sind die Erfahrungen der als Kinder geflüchteten
Chilenen sehr mit ihren jeweiligen Aufenthaltsorten verwoben und widerspiegeln teilweise die
damals herrschenden Systemverhältnisse. Man schätzt, dass zirka 8.000 Chilenen in Deutschland Zuflucht gefunden haben, davon knapp 3.000 in der DDR.

Nach ersten Interviews in Berlin und Frankfurt am Main destillieren sich raumübergreifende, allgemeine Erfahrungen heraus, die an jedem Ort gleichermaßen von den Exilkindern bewältigt werden mussten. Dazu zählen das Erlernen der deutschen Sprache, was den Kindern bekanntermaßen leichter fällt als den Eltern, das Sich-Hineinfinden in eine fremde Kultur, der Besuch deutscher Schulen und vieles mehr. Eine Besonderheit im Hause der Flüchtlinge erinnert aber fast jedes Exilkind eindrücklich: die große Hoffnung der Eltern auf baldige Rückkehr nach Chile. Noch heute haben sie den Platz vor Augen, an dem in den Wohnungen die gepackten Koffer aufbewahrt wurden. Leonardo, einer unserer Zeitzeugen sagt: »Mein Koffer war immer griffbereit.« Der war für die Familie ein täglich präsentes Symbol für den Sehnsuchtsort Chile. Die Diktatur dauert fast 17 Jahre, und so bleibt die Heimat im Koffer. Wäre das nicht ein guter Filmtitel: »Heimat im Koffer«?

Bild junge Chilenen am Alexanderplatz
Junge Chilenen am Alexanderplatz

Am Ende der Pinochet-Diktatur 1990 sind die Exilkinder erwachsen geworden und stehen vor der Entscheidung, in ihrer Exilheimat zu bleiben oder nach Chile zurückzugehen. Wobei das Verb »zurückgehen« die Schwere des Vorgangs ungenau ausdrückt. Denn im Grunde reisen sie im Unterschied zu ihren Eltern in ein ihnen fremdes Land. Auch dieser Teil der Emigrationsbiografien soll in unserem Film erzählt werden. So ist der Arbeitskalender für die Chile-Reise vollgepackt mit Interviewterminen, aber auch mit Dreharbeiten an den Orten von Flucht und Terror. Hinzukommt, dass im März dieses Jahres in Chile noch strenge Corona-Regeln herrschen. Allein die Einreise wäre uns ohne Hilfe unserer chilenischen Freunde wohl kaum gelungen. Man musste auf einer Webseite des Innenministeriums alle Impfungen mit den Originalnachweisen, ein Foto mit dem Reisepass rechts neben dem eigenen Gesicht einreichen und einen negativen PCR-Test am Tag des Abfluges besitzen. Ohne all diese Papiere hätte man den Airbus nicht betreten dürfen. Auf dem
Flughafen »Comodoro Arturo Merino Benítez« Santiago bildeten sich lange Schlangen an den
Einreiseschleusen, weil hier wiederum ein PCR-Test erfolgte. Danach darf das Quartier so lange
nicht verlassen werden, bis man online benachrichtigt wird, dass der Test negativ ist. Im gesamten Stadtgebiet herrscht Maskenpflicht, drinnen wie draußen, öffentliche Plätze und Parks eingeschlossen. Kameraleute können ein Lied davon singen, welche Einfälle man braucht, um zeitlose Bilder von unmaskierten Menschen zu drehen.

Der erste Drehtag führt uns ins Museo de la Memoria y los Derechos Humanos. Es ist der zentrale Erinnerungsort, das offizielle historische Gedächtnis an die Opfer der Pinochet-Diktatur. Der Neubau wurde 2010 von der damaligen Präsidentin Michelle Bachelet eingeweiht, die selbst in der DDR im Exil war. Im Inneren des Kubus erstreckt sich eine Wand über alle Etagen, die Fotos von den über 3.000 ermordeten und verschwundenen Personen zeigt. Wir erhalten die Erlaubnis, diese »Wand der Opfer« mit der Drohne abzufilmen. So schaut die fliegende Kamera direkt in die Gesichter der Gemeuchelten. Unbekannte Frauen und Männer neben weltbekannten, wie dem Musiker Víctor Jara. Ein Bild nach dem anderen fährt die Kamera ab, und jedes kündet von einem unbarmherzigen, grausamen Schicksal. Manche Bilderrahmen sind leer; man kennt zwar den Namen des Verschwundenen, aber es gibt kein Gesicht dazu.

Ein Foto zeigt den Vater unseres Protagonisten Alvaro, der seine Kindheit im Berliner Exil
verbrachte. Sein Vater war Rechtsberater von Salvador Allende und wurde wenige Tage nach
Putschbeginn auf offener Straße erschossen. Er galt erst als verschwunden, bis ihn der Großvater im Leichenkeller eines Krankenhauses findet. Alvaro war damals sechs Jahre alt. »Von diesem Tag an wusste ich, dass ich keinen Vater mehr habe«, sagt Alvaro heute. »Ich bin ohne Vater groß geworden. Das nimmst du dann als selbstverständlich hin, denn du hattest ja keine Zeit, mit ihm eine Beziehung aufzubauen.« Mit seiner Mutter begibt er sich auf eine mehrwöchige Flucht, weil auch sie in Gefahr ist. Alvaro gehört zu jenen Exilkindern, die wieder in ihr Geburtsland zurückkehrten. Heute erinnert im Zentrum von Santiago eine Plakette an die Ermordung seines Vaters, die Alvaro mehrmals jährlich reinigt. Später drehen wir ihn dabei, wie er auf Knien, ausgestattet mit Bürste, Schwamm und einer Flasche Alkohol, die auf dem Gehweg angebrachte Gedenktafel vom Schmutz der Schuhe und Tiere säubert. Es wurde der Familie nicht erlaubt, die Plakette an der neben dem Trottoir aufragenden Gebäudewand der Justizkammer anzubringen.

Wir sind zwar in »historischer Mission« unterwegs, werden aber gleich in den ersten Tagen unseres Aufenthaltes in die aktuelle Geschichte Chiles hineingezogen. Am 11. März erleben wir mit Tausenden meist jungen Chilenen die Einführung des neuen linken Präsidenten Gabriel Boric im Garten der Moneda auf der Rückseite des Palastes. Boric ist mit 36 Jahren der jüngste Präsident in der Geschichte seines Landes. Den Wahlsieg verdankt er der Kraft der sozialen Bewegungen, die seit 2019 auf den Straßen Chiles für soziale Gleichberechtigung und gegen Preiserhöhungen der öffentlichen Dienste – von Fahrtkosten in der U-Bahn bis zu Schul- und Studiengebühren – demonstrieren. Der Weg in die Moneda durch die Menge seiner Anhänger führt Boric am Denkmal Salvador Allendes vorbei, vor dem der Neugewählte sich verneigt. Auch seine Ansprache ist symbolträchtig: Er spricht nicht vom Balkon, sondern aus dem Fenster, wo am 11. September 1973 die erste Rakete der Putschisten einschlug. Boric nimmt auch zum Ukrainekonflikt Stellung, wo russische Truppen seit 15 Tagen ihr Nachbarland angreifen. Er verurteilt den Bruch des Völkerrechts durch Russland und gibt für seine Außenpolitik eine Äquidistanz-Erklärung ab. Chile sei ein unabhängiger Staat, der sich aus der historischen Erfahrung des 20. Jahrhunderts heraus keinen Machtblöcken anschließen werde.

Auf der Fahrt durch die Straßen Santiagos zu ehemaligen Folterzentren der Militärdiktatur sind an Häuserwänden nach wie vor neue Graffiti von Protestaktivisten zu sehen. Geschichte und Gegenwart vermischen sich im Rückspiegel unseres Produktionsfahrzeugs. Gegenüber dem Nationalstadion bereiten wir die Kameradrohne für den Einsatz vor. Vor Augen haben wir die Schwarz-Weiß-Bilder aus der zum Konzentrationslager umfunktionierten Sportstätte in den ersten Tagen des Putsches. Tausende mussten hier auf den Traversen im Freien ausharren, im Anblick von Folter und Tod. Die grausame Ermordung des Liedermachers Víctor Jara in Santiago bereits am 5. Tag des Putsches schreckte damals die Welt auf. Nach einem Foltermartyrium wird der 40-Jährige mit einer Maschinengewehrsalve von 44 Einschüssen hingerichtet.

Über dem Stadion kreist die Drohne und übermittelt die ersten Bilder. Sie zeigen eine moderne Event-Arena – ein funktionsbau für Sport und Großveranstaltungen. Man hat den Eindruck, diese Architektur schluckt Geschichte – und ist dennoch lebendig. Als 1987 die Fußball-Junioren-WM in Chile stattfand, weigerte sich die sowjetische Mannschaft, hier zu spielen, und wurde aus dem Turnier ausgeschlossen. Die DDR-Mannschaft entschloss sich nach hitzigen Diskussionen für den Auftritt im Stadion.

Als im November 2010 die deutsche Band Rammstein vor 60.000 Zuschauern ihr erstes Konzert in
Chile gibt, sind viele Exilchilenen mit dabei. Bandmitglied Flake hat Freunde unter ihnen, Tania,
Paolo …, mit denen er in Berlin zur Schule ging und als Punk um die Häuser zog. Flake erinnert
sich an dieses außergewöhnliche Konzert: »Es war wie ein großes Fest und ich glaube, wir haben
damit diesem Ort die Möglichkeit zur Freude zurückgegeben.«

Es sind solche Veranstaltungen, bei denen sich die Kinder des Exils wieder begegnen. Eine Gruppe von ihnen baut ein Netzwerk auf, um Erfahrungen auszutauschen und gemeinsame Projekte zu organisieren. Abgeleitet vom Dokumentarfilm „Pinochets Kinder“ von Paula Rodriguez aus dem Jahr 2002, worin die heutige Innenministerin Carolina Tohá als eine von drei Filmakteuren über die Ermordung ihrer Väter reflektiert, werden die informellen Netzwerker manchmal kurz „Kinder Pinochets“ genannt. Sollte unser Film »Die Kinder Pinochets« heißen? Für ein heutiges Publikum wird der Titel eventuell irreführend zu sein. Dass es sich hier um eine Art Synonym für Kinderschicksale unter dem Diktator Pinochet handelt, müsste der YouTube- und TikTok- Generation wohl ausführlicher dargelegt werden. Moderne Medien schlucken Geschichte, aber sie können sie auch wieder ausspucken.

Die weiteste Reise zu einem Drehort im langgestreckten Chile führt uns südlich über 500 km von
Santiago nach Concepción. Dort sind wir von der Katholischen Universität zu einer Filmvorführung unserer Dokumentation über die Flucht der Honeckers nach Chile eingeladen. Der Film aus dem Jahre 2019 thematisiert das Tauziehen zwischen Russland, Deutschland und Chile um den einstigen Staatschef der DDR. Erich Honecker kommt 1993 direkt aus dem Moabiter Gefängnis als schwerkranker Mann in Santiago an; ein Jahr später stirbt er in seinem Haus in La Reina. In Chile sind die politischen Meinungen über den langjährigen SED-Chef gespalten, aber für die Aufnahme chilenischer Flüchtlinge in der DDR nach dem Putsch ist man ihm unisono dankbar. Seine Frau Margot lebt noch bis 2016. Wo die beiden bestattet sind, ist bis heute unbekannt.

Nach der Filmvorführung fragt ein Professor in der Diskussion, warum man so viel Theater um den Honecker gemacht habe, die Deutschen hätten doch in den Nürnberger Prozessen erlebt, wie man Diktatoren zur Rechenschaft zieht. Von der anderen Seite der Weltkugel aus kann sich schon mal die Perspektive zu NS-Täter und NS-Opfer verschieben. Ein indigener Student rückt mit seiner anschließenden Wortmeldung die Zusammenhänge wieder zurecht. In Chile gibt es weiterhin zwei parallele Geschichtsnarrative. In diesen sind Pinochet und Allende nach wie vor Antipoden. Auch für den neuen Präsidenten Boric bleibt das ein nicht zu unterschätzender Fakt.

Am Tag danach sind wir mit Tania verabredet. Sie ist gewählte Regionalabgeordnete im
Department Gran Concepción. Ihre Eltern waren sehr engagiert in der Unidad Popular, besonders
ihre Mutter, die eine beliebte Bürgermeisterin im Ort Coronel an der Pazifikküste war. Sie galt als
eine der erfolgreichsten und schönsten Politikerinnen, und Allende arrangierte für Staatsgäste gern einen offiziellen Besuch in ihrem Ort. So kann Tania stolz von sich behaupten, dass sie als Kind auf dem Schoß von Fidel Castro und Walentina Tereschkowa, einer sowjetischen Kosmonautin, gesessen hatte. Als die Putschnachricht auch im Süden des Landes eintrifft, bleibt Tanias Mutter im Rathaus, mit der Überzeugung: Mich haben die Einwohner gewählt, und nur diese können mich wieder abwählen. Ihre Tapferkeit kann sie ganze drei Tage durchstehen, dann wird sie vom Militär verhaftet und verschleppt. Tania erzählt uns, welche Odyssee die Familie durchleben musste, um letztendlich und mit viel Glück in der französischen Botschaft Schutz zu finden. Der französische Botschafter nimmt allein in den ersten zehn Monaten des Militärputsches 600 Personen in seine Residenz auf, während der damalige deutsche Botschafter durchaus Sympathie für die neuen Machthaber entwickelt. Auch unseren Drehwünschen gegenüber sind die Franzosen aufgeschlossen und hilfsbereit. Obwohl fast fünfzig Jahre vergangen sind, hat sich in der Anlage der Botschaft nicht viel verändert. Das kleine Chalet ist umgeben von Blumenrabatten und sorgsam gepflegtem Rasen, auf dem damals die Schutzsuchenden in improvisierten Zelten oder nur mit einem Mantel bedeckt campierten. Frankreich wird für Tania zur ersten Station des Exils, bis es nach einem Jahr weiter nach Berlin geht. Das Erlebnis der Flucht hat posttraumatische Spuren von Angst und Verlust hinterlassen. Nicht wenige der Betroffenen sind bis heute in psychotherapeutischer Behandlung. Von diesem Thema der Fluchterfahrung ausgehend, könnte man dem Film die Headline »Flucht vor Pinochet« geben.

Von Tania werden wir über die Fluchtereignisse hinaus mit einem anderen Thema, einem feministischen, konfrontiert. Ein Großteil der Exilchileninnen in der DDR ist nach dem Mauerfall ins Andenland zurückgekehrt. Meistens waren es die Eltern, die, nachdem sie schon das Scheitern ihres chilenischen Traums erlebt hatten, jetzt in der DDR dem Einzug des Kapitalismus nicht noch einmal beiwohnen wollten. »Meine Mutter«, sagt Tania, »hat nur den Kopf geschüttelt: ›Nein das kenne ich alles. Lass uns zu Hause Ruhe finden.‹« Der Neuanfang in Chile wird – anders als gedacht – ein Kampf ums Überleben. Nach vielen Jahren des Exils finden die Rückkehrenden eine völlig veränderte chilenische Gesellschaft vor. Viele der ehemaligen Freunde aus der Zeit der Unidad Popular sind tot, verschwunden oder nicht aus dem Exil zurückgekehrt. Von den Nachbarn werden die Rückkehrer kritisch beäugt: Das sind doch diejenigen, die es sich im Ausland haben gutgehen lassen, während wir hier die Diktatur aushalten mussten.

In dieser Situation bitten die Eltern ihre Tochter Tania um Hilfe. Diese bricht ihr Medizinstudium in
Berlin ab und begibt sich in das Land ihrer Eltern. Sie ist unterdessen eine Berlinerin geworden,
eine junge Frau, die mit der Erfahrung von Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern
aufgewachsen ist. Bei ihrer Ankunft 1990 in Chile wird der erste demokratische Präsident Patricio Aylwin als Nachfolger des Diktators Pinochet ins Amt gewählt. Das Land steht vor einer langwierigen und zähen Befreiung vom diktatorischen Erbe. Bis heute hält dieser Prozess der Demokratisierung mit Fort- und Rückschritten an.

Was sich damals jedoch bei weitem nicht geändert hatte, war das patriarchalische System. »Die Männer kamen mit meinem Selbstbewusstsein gar nicht klar«, erinnert sich Tania. »Auch das
Verständnis, dass ich noch ein anderes Leben hatte in einer anderen Kultur, konnten oder wollten
sie nicht begreifen.« So oder ähnlich äußern sich auch die anderen Zeitzeuginnen, die uns vor der
Kamera ihre Biografie erzählen. Sie haben mit Universitäts- und Hochschulabschlüssen das Exil
verlassen und müssen nun in ihrem Herkunftsland nicht nur um ihre berufliche Anerkennung
kämpfen, sondern auch im ihre Selbstbestimmung als Frau in einer von Männern dominierten
Arbeitswelt. »Man kommt zurück aus Deutschland«, sagt Andrea, »und ist plötzlich eine komische
Person, eine Deutsche, eine ›Retornada‹, eine ›Rückkehrende‹. In meinem Ingenieurbüro um mich
herum nur Männer, es war furchtbar.« In der eigenen Identität ringen diese beiden Kulturen ständig um die Vorherrschaft in den Emotionen. Als Chilenin geboren und als Deutsche aufgewachsen, leben viele Exilanten in zwei Welten. »Und dieses Verständnis«, sagt Andrea, »können die wenigsten Männer aufbringen.« Von sechs in Chile interviewten Zeitzeuginnen leben fünf alleinstehend.


Darunter sind auch Barbara und Claudia, die mithilfe ihrer damals in Genf arbeitenden Großmutter mit einem Taxi illegal über die argentinische Grenze gebracht werden. Omas Dollarbestände sind dabei nicht unwichtig. Nach mehreren Fluchtstationen landet die Familie 1974 in Dresden. Beide Geschwister werden gute Schülerinnen und integrieren sich mit Begeisterung in das Alltagsleben an der Elbe. Da der Großvater ein anerkannter General im chilenischen Heer ist, erlaubt Pinochet die Rückkehr ihrer Familie bereits 1980. Beim Flug über die Anden sind die Kinder zehn und zwölf Jahre alt. Normalerweise müssten sie jetzt in die Deutsche Schule in Santiago gehen. Doch unter der Militärdiktatur kommt eine Exilgeschichte im Ostblock nicht gut an. Die beiden Mädchen werden dazu verdonnert, wenn sie jemand fragt, wo sie die letzten Jahre gelebt haben, nur das Wort »Deutschland« zu sagen. Aus diesem Grunde werden sie in der Schweizer Schule ihre Ausbildung fortsetzen, was im Interview manchmal sehr schöne Klangverbindungen zwischen schweizerischem und sächsischem Dialekt erlaubt.


Erst ab 1986 kann das Geschwisterpaar in der Öffentlichkeit vorsichtig den wahren Exilort
offenbaren. Barbara und Claudia haben in Chile sechs Jahre lang ihre Kindheit in Dresden wie eine verbotene Sehnsuchtskapsel in sich getragen, einen Lieblingsort, den man verschweigen muss. Wahrscheinlich sind deshalb ihre Erinnerungen an das Leben in Dresden nach über vierzig Jahren noch so fotografisch präzise, die Strophen der Volks- und Pionierlieder gegenwärtig. Wenn Barbara am Klavier über den Notenständer schaut, schaut sie auf gerahmte Motive der Dresdner Altstadt.


Claudia arbeitet als Turnlehrerin und führt uns einen perfekten Flick Flack in ihrem gut erhaltenen
blauen DDR-Sportdress vor. Es ist erstaunlich, wie ein politisch geprägter Alltag im Exil Jahre später seine ideologische Bestimmtheit verliert und zu einem Stück biografischer Glückseligkeit gerinnt. Biografie wird Geschichte und umgekehrt.

Leonore aus dem Norden Chiles mäandriert weiterhin zwischen beiden Kulturen. Sie schreibt in
Deutschland ihre Doktorarbeit über die Rolle der Familien im Exil. Zuhause in ihrem Heimatort
Iquique ordnet sie mit ihrem Vater das Familienarchiv und entdeckt historische Schätze. In Tagebucheintragungen ihres Vaters während des Exils sind mehrfach Begegnungen mit Karola
Bloch in Tübingen vermerkt. Was haben die chilenischen Quinteros mit den deutschen Blochs zu
tun? Dahinter verbirgt sich die weithin unbekannte Solidaritätsaktion von Ernst Bloch zur Rettung
von Leonores Vaters, der als Hochschuldozent in Iquique von den Militärs verhaftet und mit 22
anderen Inhaftierten zum Tode verurteilt wird und in einem Gefängnis in der Hauptstadt auf seine Hinrichtung wartet. Diese Todesliste wird dem Chile-Solidaritätskomitee an der Freien Universität in Berlin 1975 zugespielt und von dort weitergeleitet an andere Hochschulorte. An der Tübinger Universität bereitet man zu diesem Zeitpunkt den 90. Geburtstag des weltberühmten Philosophen vor.

Ernst Bloch nutzt diesen Anlass, um auf das Schicksal des chilenischen Sprachwissenschaftlers Dr. Quinteros Ochoa aufmerksam zu machen. Im „Schwäbischen Tagblatt“ lässt er eine Annonce aufgeben, in der es sinngemäß heisst, wer ihn ehren möchte, der solle etwas zur Freilassung des Chilenen unternehmen. Der Autor vom „Prinzip Hoffnung“ schafft damit das Unmögliche und das Todesurteil von Leonores Vater wird in eine Haftstrafe umgewandelt. Die meisten seiner Mitangeklagten haben dieses Glück nicht. 1976 kommt er frei. Er wird aus dem Gefängnis direkt zum Flugplatz gebracht und wird mit seiner Familie ins Exil nach Belgien abgeschoben. Als Leonores Familie 1977 endlich von Brüssel nach Tübingen übersiedeln darf ist Ernst Bloch wenige Wochen vorher verstorben. Leonores Vater kann seinem Retter nicht mehr persönlich danken. Mit Karola Bloch bleibt die Familie noch lange Zeit eng befreundet. Sie nimmt sogar noch bei ihrem Vater Spanischunterricht und schreibt der kleinen Leonore eine Widmung ins Poesiealbum.

Am vorletzten Tag unseres Aufenthaltes fahren wir in den Ortsteil San Miguel zu einem gemeinsames Essen aller Zeitzeuginnen und Zeitzeugen im Garten von Camillo und seinem Vater Guarani. Letzterer ist gebürtiger Uruguayer, und diese sind in Südamerika für ihre Grillkünste hoch geachtet. Über zwei bis drei Stunden wird das Rindfleisch – oder für Vegetarier Maiskolben – in einer gleichmäßigen Glut erhitzt. Neben dem Feuer stehend, erzählt der 80-Jährige in wenigen Sätzen von seiner Festnahme und Verschleppung ins Nationalstadion. »Anfang September beginnt erst das Frühjahr, und in den Nächten ist es noch sehr kalt«, erinnert er sich. »Wir hatten nur das auf dem Leib, was wir bei der Verhaftung anhatten.« Abwechselnd werden die Gefangenen zu Verhören geholt, wo sie unsagbar gefoltert werden. Immer wieder hallen Schüsse von Hinrichtungen in das Stadion-Oval. Viel mehr möchte er nicht über diese qualvollen Tage berichten.


»Die Steaks sind fertig«, ruft Guarani in Richtung der gedeckten Tafel, um den sich fast alle unserer Protagonistinnen und Protagonisten zusammengefunden haben. Nicht alle kennen sich, doch die gemeinsame Erfahrung des Exils lässt keine fremdelnde Stille aufkommen. Während die zarten Fleischstücke auf der Zunge zergehen und der Rotwein zu Gesängen anregt, werden wir gefragt, wann der Film denn fertig sein soll. »Spätestens am 11. September 2023«, antworten wir. »Ja, das ist gut, wirft eine andere Stimme ein, dieser Tag darf nicht nur dem Einsturz der Zwillingstürme vorbehalten sein. Wir hatten schon unser ›9/11‹, und das 38 Jahre vor New York!« – »Da ist er, der Titel des Films!«, werfen wir in die Runde: »9/11 Santiago de Chile«.